Wer einen Roadtrip entlang der US-Westküste plant, für den gibt es hier einen Geheimtipp: Der Girard Ridge Lookout – eine Hütte mitten in der Abgeschiedenheit der kalifornischen Berge.

Eine große weiße Holzhütte ragt auf einem breiten, rund vier Meter hohen Sockel gen Himmel – mitten in den Bergen Nordkaliforniens. Eine Treppe führt hinauf in den knapp 18 Quadratmeter großen, spartanisch ausgestatteten Raum des Turms: Zwei Betten, zwei Stühle, ein Tisch, eine Kommode und ein bisschen Krimskrams. Streichhölzer, Kerzen, zwei Kartenspiele und ein kleines Notizbuch. Kein Strom, kein fließend Wasser, kein Luxus. Vor mehr als 80 Jahren wurde der Holzbau namens Girard Ridge Lookout errichtet. Als Feuerwache. Seither thront der Ausguck südlich des Städtchens Dunsmuir über einem riesigen Waldgebiet, dem Shasta-Trinity National Forest. Ein bisschen erinnert der Bau an die Lifeguard-Stationen, die an Kaliforniens Stränden stehen. Nur dass Girard Ridge größer ist. Und es waren freilich auch keine Rettungsschwimmer, die hier fernab des Ozeans jahrelang Ausschau hielten, sondern Menschen, die Waldbrände frühzeitig entdecken und melden sollten. Inzwischen hat moderne Technik das antiquierte Frühwarnsystem vielerorts abgelöst. Genutzt werden einige Ausgucke jedoch bis heute. So auch Girard Ridge Lookout, dessen eigentlicher Wachbetrieb bereits Anfang der 80er-Jahre eingestellt wurde. Wo einst Studenten und freiwillige Helfer nach Rauchwolken über den Baumwipfeln spähten, suchen heute Backpacker, Globetrotter und abenteuerlustige Wochenendausflügler nach unberührter Natur und Abgeschiedenheit. Fünf Monate im Jahr, jeweils von Anfang Juni bis Ende Oktober, ist der ehemalige Feuerwachturm für sie geöffnet. Reservierungen sind aber nur zwischen Februar und August möglich. Das Abenteuer bleibt den Frühbuchern und akkuraten Reiseplanern vorbehalten – und es beginnt bereits bei der Anreise. Mit einem Leihwagen machen wir uns auf den Weg in Richtung Girard Ridge Lookout, der weit im Norden des Golden State Kalifornien liegt. Bis nach Oregon sind es von da aus nur noch rund 180 Kilometer – nach US-amerikanischen Verhältnissen ein Katzensprung. Touristen bekommt man hier immer weniger zu Gesicht. Die meisten von ihnen biegen bereits zwischen San Francisco und Sacramento in Richtung Osten ab, um von da aus den Yosemite National Park anzusteuern oder weiter nach Bryce zu fahren. Wir hingegen folgen der Interstate 5 bis Soda Creek. Kurz nachdem wir den Highway verlassen haben, erreichen wir jene Waldwege, die uns zu der ehemaligen Feuerwache führen sollen. Die Pfade sind schmal, kurvig, voller Geröll, Sand und Geäst. Während braungelbe Staubwolken unseren Geländewagen einkesseln, wirbeln die rotierenden Räder kleine Steinchen durch die Luft. Wie Regen prasseln sie gegen den dunklen Jeep, der bald ebenso braungelb ist wie der Boden unter ihm. Spätestens hier leuchtet ein, warum Mietfahrzeuge für diese Strecken eigentlich nicht zugelassen sind. Während unser schlechtes Gewissen mit jedem Schlagloch größer wird, versuchen wir Gedanken an saftige Reparatur-Rechnungen zu verdrängen, indem wir uns einreden, dass jedes echte Abenteuer auch ein bisschen Rebellion braucht. Doch nicht nur die Strecke ist holprig – auch die Anfahrtsbeschreibung des National Forrest Service gibt uns Rätsel auf. Straßenbeschilderungen gibt es hier schon längst nicht mehr, die Navigation erfolgt über Himmelsrichtungen. Wir landen im Nirgendwo. Hier geht es nicht weiter, oder zumindest nicht nach oben, und immerhin das ist klar: Zum Fire Lookout geht es immer nach oben. Schließlich wurden die Wachtürme zu diesem Zweck errichtet – um den Blick auf die umliegenden Wälder zu ermöglichen.
In Auftrag gegeben wurde der Bau der Lookouts nach den verheerenden Waldbränden im Jahr 1910. Das Feuer, das als „Big Blow Up“ in die Geschichte der USA eingegangen ist, erfasste damals gut 1,2 Millionen Hektar Land im Nordwesten der Vereinigten Staaten und kostete 85 Menschen das Leben – ein Großteil davon Feuerwehrmänner. Die Regierung erklärte den Brandschutz der Wälder daraufhin zur obersten Priorität. So entstanden bis in die späten 30er-Jahre rund 5000 sogenannte Fire Lookouts im gesamten Land, von denen heute nur noch ein Bruchteil steht. Der Girard Ridge Lookout selbst wurde im Jahr 1931 errichtet und zählt inzwischen nicht nur zu den wenigen noch erhaltenen Feuerwachen des Shasta-Trinity National Forest, er ist auch der älteste seiner Bauart. Nach einer knappen Stunde Fahrzeit – nicht eingeplante Umwege inbegriffen – erreichen wir schließlich jene Stahlschranke, an der der Zahlencode zum Einsatz kommt, den Besucher nach erfolgreicher Reservierung erhalten. Kaum sind die Ziffernräder des Nummernschlosses eingerastet, fällt ein Stahlklotz mit dumpfen Ton zu Boden. Der alte Schlagbaum ist entriegelt und gibt den Weg mit einem lauten Quietschen frei. Es wird schon bald das letzte schrille Geräusch sein, das hier, jenseits jeglicher Zivilisation, zu hören ist. Kaum ist der Jeep geparkt, bleibt nur noch eins: Stille. Zumindest für einen Moment. Denn ist die Ruhe erstmal im eigenen Kopf angekommen, sind auch die Ohren bereit, Kleinigkeiten wieder wahrzunehmen. Das Zirpen der Grashüpfer, das Knacken der Äste unter den eigenen Schuhen, die leichte Sommerbrise im Geäst der Baumkronen. Und dann ist da noch dieses Panorama. Als ob der freie Blick auf Castle Crags – eine mehr als 200 Millionen Jahre alte Granit-Formation – nicht schon beeindruckend genug wäre, wartet Girard Ridge Lookout mit noch mehr auf. So erhebt sich im Norden der rund 4300 Meter hohe Mount Shasta wie ein majestätischer Kegel am Horizont. Hier, aus kilometerweiter Entfernung, wirkt der zweithöchste Vulkan der USA friedlich. Dabei schläft der kalifornische Riese nur. Auch wenn es seit 1786 keinen Ausbruch mehr gegeben hat, rumoren die heißen Schwefelquellen im Inneren des Kraters noch immer. Dieses Naturphänomen soll dem Wissenschaftler John Muir und seinem Expeditionspartner 1875 sogar das Leben gerettet haben. Dem Tod durch Erfrieren entgingen sie nach einem Schneesturm angeblich nur, indem sie sich in heißen Schlamm eingruben. Doch Mount Shasta ist nicht nur die Kulisse realer Abenteurer-Geschichten – er inspirierte auch Erzähler mythischer Fantasy-Märchen. Den Schriftsteller Frederick Oliver zum Beispiel. Der machte das Innere des Vulkans in seinem Roman „A Dweller on Two Planets“ („Ein Bewohner zweier Planeten“) zur Lebenswelt der Nachfahren der Atlantis-Überlebenden.
All das muss man natürlich nicht wissen, um sich vom Anblick der Naturgiganten in den Bann ziehen zu lassen. Und doch erklärt es vielleicht ein wenig, warum Großstädter ihren hartverdienten Urlaub in einer so komfortlosen Wildnis verbringen. Schon seit Jahrzehnten geht von den Fire Lookouts und den einzigartigen Orten, an denen sie stehen, eine magische Anziehungskraft aus. Auch der berühmte amerikanische Schriftsteller Jack Kerouac zog einst in die Abgeschiedenheit aus, um als Wachmann für einen Sommer lang seinem ekstatischen Leben zu entkommen. Später wird der gefeierte Beat-Poet seine Eindrücke in Werken wie „Desolation Angels“ und „The Dharma Bums“ verarbeiten, er wird von schneebedeckten Bergkuppen, Freiheit, aber auch Albträumen und Halluzinationen berichten. Von all den Dingen eben, die wohl viele Menschen durchleben, wenn sie Zeit haben, sich auf sich selbst zu besinnen. Natürlich artet nicht jeder Besuch des Girard Ridge Lookout in einen Selbstfindungstrip aus. Schließlich gibt es in der Umgebung genügend zu entdecken und niemand muss seine Zeit hier däumchendrehend und gedankenverloren verbringen. Da wäre zum Beispiel der Pacific Crest Trail, auf den erprobte Wanderer stoßen, wenn sie einem Waldweg an der ehemaligen Feuerwache für fünf Kilometer folgen. Der Fernwander- und Reiterweg, der als „Pazifischer-Gipfel-Weg“ ins Deutsche übersetzt wird, bringt es auf stolze 4279 Kilometer und verläuft durch weite Teile der US-Westküste. Die Strecke lieferte nicht nur den Stoff für Cheryl Strayeds Roman „Der große Trip“, sondern auch für den gleichnamigen Hollywood-Streifen mit Reese Witherspoon. Wem nicht nach langen Wanderungen, aber dennoch nach einem Ausflug ist, der wird sich wohl oder übel ins Auto setzen und die holprige Piste vom Girard Ridge Lookout zurück zur Interstate 5 erneut hinter sich bringen müssen. Auch wir entscheiden uns für diese wenig sportive Variante und fahren erst nördlich, um dann auf den Highway 89 in Richtung Südosten abzubiegen. Dort liegt der McArthur-Burney Falls Memorial State Park, in dem sich jene imposanten Wasserfälle befinden, die US-Präsident Theodor Roosevelt einst „das achte Weltwunder“ nannte. Knapp 3,8 Millionen Liter kaltes und glasklares Wasser sind es, die sich hier jeden Tag aus 39 Metern Höhe in den Abgrund stürzen. Über die Wanderwege lässt sich das Spektakel aus verschiedenen Perspektiven beobachten. Zum Sonnenbaden und Picknicken empfiehlt sich der nahegelegene Lake Britton. Trotz Badehosen-Wetter ist der See am späten Nachmittag angenehm leer. Abgesehen von den Eichhörnchen natürlich. Von denen gibt es hier jede Menge und die Zutraulichkeit der kleinen Nager lässt vermuten, dass es hier an den meisten Tagen wohl auch mehr Menschen gibt als heute.
Bis in die Abgeschiedenheit zurück sind es gut 100 Kilometer. Wir verlassen Lake Britton rechtzeitig, um vor Einbruch der Dunkelheit am Girard Ridge Lookout zu sein – zum einen, weil Tageslicht die Auffahrt erleichtert, zum anderen, weil ein Sonnenuntergang nirgends besser sein könnte. Über unserem kleinen Gasbrenner brutzeln Würstchen und Rührei in der Abendsonne. Als wir uns auf der Terrasse niederlassen, sind Mount Shasta, Castle Crags und die umliegenden Wälder bereits in ein flammendes Rot gehüllt. Kurz darauf, als es stockduster ist, wünscht der schreckhafte Großstädter in mir es sich dann doch: dieses kleine bisschen Komfort. Das Problem ist das gut 20 Meter entfernte Toilettenhäuschen – und zwar nicht, weil es auch da kein fließend Wasser, aber umso mehr nervtötende Fliegen gibt. Nein, das Problem ist die Angst. Davor, dass auf dem Weg dorthin plötzlich ein Bär aufkreuzen könnte. Kaliforniens Wälder sind schließlich bekannt für ihre kolossalen Bewohner. Ebenso bekannt ist freilich auch, dass Bären keine Menschenfresser sind. Wahrscheinlich fürchten sich die Tiere vor uns ohnehin mehr als wir uns vor ihnen. Mich jedoch beruhigt das auf dem Weg durch die tiefschwarze Nacht kein Stück – trotz Taschenlampe. Immerhin ist mir bewusst, wer einen möglichen Kampf gewinnen würde. Um es soweit gar nicht erst kommen zu lassen, halte ich mich ans Bären-Einmaleins. Das hängt in Kalifornien auf so ziemlich jedem Campground und hält eine wichtige Lektion bereit: Lärm machen! Angeblich sind nämlich auch die Bären nicht sonderlich interessiert an Begegnungen mit uns Menschen. Dafür müssen sie aber erst einmal wissen, dass wir da sind. Also laufe ich laut singend in Richtung Toilettenhäuschen und sehne mich nach ein wenig städtischer Straßenbeleuchtung.
Zurück auf dem Terrassendeck angekommen, offenbart der Blick gen Himmel, welchen Vorteil es hat, die Nacht fernab illuminierter Metropolen zu verbringen. Würde man es nicht mit eigenen Augen sehen, so würde man das funkelnde Sternenmeer wohl für eine übertriebene Photoshop-Montage halten. Fasziniert von dieser surrealen Aussicht trinken wir den überteuerten Cabernet Sauvignon, den wir noch vor ein paar Tagen in Sonoma gekauft haben – einer kalifornischen Weinregion, die Touristen aus aller Welt anlockt. Hier, weit weg vom Gewimmel der Reisegruppen, spielt es keine Rolle mehr, dass wir den knapp 60 Dollar teuren Tropfen aus billigen Walmart-Plastikgläsern schlürfen. Es ist der Moment, in dem Kingsize-Betten, 100 Fernsehkanäle, kostenloses WLAN – und auch das richtige Weinglas – zu völlig überflüssigem Luxus werden.